Sonntag, 24. Januar 2010

Zwischen Wölfen und Königen

 Kapitel 1 | Szene 1

Zwischen Wölfen und Königen

(c) Sonja Murach


Vlakkeland, Vis Banken
Haus von Sorcha O‘Connor
19. Tag des Ostarmanoth im Jahre 1143
Am Abend des Mondtages


„Silvio, konzentriere dich auf das Ritual, nicht auf meine Tochter.“
Ertappt huschten die Pupillen des jungen Mannes auf sein Gegenüber. Sorcha hielt die Lider gesenkt und rührte sich nicht. Der Paese wusste nicht einmal zu sagen, ob sie die Lippen bewegt und die Worte ausgesprochen oder ob er sie lediglich gedacht hatte. Er warf einen verstohlenen Blick nach Links. Auch die Augen seines Bruders waren geschlossen. Wenn Mario etwas bemerkt hatte, ließ er sich nichts anmerken. Silvio beschloss, es ebenso zu halten. Er atmete langsam durch, senkte die Lider und versuchte sich von allen Eindrücken zu befreien.
„Fühle dich selbst“, vernahm er Sorchas Stimme und immer noch war er nicht sicher, ob sie in Wirklichkeit sprach oder in seinen Gedanken. „Spüre deine Existenz, lausche deinem Herzschlag, horche auf deinen Atem.“
Die Tonlage der älteren Frau blieb eindringlich und monoton, dabei aber nicht einschläfernd. Silvio horchte in sich, lauschte auf seinen Körper, sein Innerstes und schließlich verschwanden alle störenden Empfindungen des Alltags. Zurück blieb Wärme, das Gefühl von Geborgenheit und Sorchas Stimme.
„Spürt den Kreis, euch und uns.“
Der Anweisung folgend konzentrierte sich der Schwarzhaarige auf jene, deren Hände er umfasste. Zu seiner Linken stand, sein Bruder, ein kleineres Ebenbild seiner selbst, sah man von dem Bart ab, den Mario jeden Morgen sorgsam stutzte. In der rechten Hand spürte er Lilliannas kühle Finger. Sie war Marios Frau und Sorchas Tochter. Silvio fühlte, das Gleichgewicht der beiden Menschen. Von ihrer Nervosität zu Beginn der Zeremonie war nichts geblieben. Dann berührte er eine Welle von Energie und Macht. Sorcha, die ihm gegenüberstand, war von ihnen die Erfahrenste. Sie leitete das Ritual und führte die Familie in eine andere Welt.
„Tretet in den Kreis.“
Sie gehorchten gleichzeitig, traten jeder einen Schritt vor und berührten sich an den Schultern. Der athletische Mann spürte den Teppich aus Bast kaum einen Lidschlag lang unter seinen bloßen Füßen, dann durchdrang er die Wand. Mario und Lillianna keuchten erschrocken auf und Silvio drückte beruhigend ihre Hände. Beide taten diesen kleinen Schritt, diese Reise in eine andere Welt, zum ersten Mal.
Die Wand war zähflüssig und klebrig wie Honig, aber eiskalt. Der Paese hatte das Gefühl um jeden Zentimeter kämpfen zu müssen, zog dabei Bruder und Schwägerin mit sich. Als die Kälte endlich nachließ, stand ihm Schweiß auf der nackten Haut. Er öffnete die Augen und sah sich um. Erst als Sorcha lächelnd die Hände von Mario und Lillianna losließ, tat er es ihr gleich.

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