Freitag, 5. Februar 2010

Die Flucht

 Kapitel 1, Szene 1

Der Wandel von Lâgiin

Câyleâns Reise

Die Flucht

(c) Sonja Murach

Der Schattenfalke glitt an Wolkenfetzen entlang und fixierte das Gebirgsgelände unter ihm. Keine Bewegung entging den scharfen Augen des Greifvogels.
befellte Zweibeiner, die haarigen Eiern glichen, huschten zwischen den Felsen. Der Falke zog die Flügel an den Körper und sackte ein paar Meter ab, ehe er die Schwingen ausbreitete und vom Wind getragen seine Kreise zog. Er stieß einen hohen Schrei aus, der von den Klippen um ein Vielfaches zurück geworfen wurde. Die Kreaturen am Boden verharrten und warfen verunsicherte Blicke in den Himmel. Verglichen mit dem Falken waren sie blind. Gegen die grauen Wolken entdeckten sie den Luftjäger nicht, während die Raubvogelaugen jedes einzelne Haar des falschen Fells erkannten. Der Vogel schrie noch einmal, als die Zweibeiner ihren Wettlauf fortsetzen.
Der Schattenfalke verlor an Höhe, ohne die Gruppe aus den Augen zu lassen. Ein Junges der pelzlosen Felldiebe rannte an der Spitze und sah sich wiederholt nach den ausgewachsenen Verfolgern um.
Der Falke ließ einen neuen Schrei erklingen und, zurück geworfen von den Felsen, musste man auf der Erde meinen, ein ganzer Schwarm Greifvögel machte sich bereit. Die Männer blieben stehen, suchten den Himmel ab und deuteten mit Speeren nach oben. Der Schattenfalke blieb versteckt. Das kleine Tier glitt unter den Wolken dahin, bis er den Sonnenstrahl entdeckte, der sich einen Weg zu bahnen vermochte. Im Lichtstrahl breitete der Vogel seine Schwingen aus. Er verharrte reglos in der Luft, fand den Fluss des Lichts und schwebte in ihm.
Auf dem Boden war die Wirkung verheerend. Ein riesiger Schatten huschte über die Zweibeiner und ließ sie panisch nach Schutz suchen. Der Falke stieß seinen Schrei erneut aus, ehe er drehte und im selben Lichtschein zurück flog
Die Jäger kauerten zwischen den Felsen. Nur der kleinste jagte weiterhin die steinigen Wege entlang und ließ schützende Nischen unbeachtet.
Der Schattenfalke schlug mit den Flügeln und sein wesentlich größeres Abbild am Grund tat es ihm gleich. Sein Schrei hallte von den Klippen wider, doch der Mensch rannte weiter.
Die Wolken zogen vor die Sonne und mit dem Lichtstrahl schwand der große Schatten.
Der Luftjäger ließ sich davon nicht irritieren. Er legte die Flügel an und fiel in den Sturzflug. Die scharfen Augen fixierten das haarige Ei, den Schopf des Zweibeiners.
Dann nahm er eine Bewegung war und sah direkt an ihm vorbei. Im letzten Augenblick breitete er die Schwingen aus. Seine Federn streiften die Wangen des Jungen. Er richtete sich gegen den Wind auf und erwischte die Felsmaus mit den Krallen.
Das Nagetier zuckte noch, doch der Greifvogel beachtete es nicht. Er blieb am Boden sitzen und blickte zu dem Menschen hinauf.
Dieser blieb erschrocken stehen und starrte auf den Vogel hinunter. Der Schattenfalke konnte die Hitze in dem Knaben geradezu sehen. Er wandte den Blick ab, spannte die Flügel und hob mit seiner Beute in die Luft.

„Danke.“ Câyleân war überzeugt, dass der Schattenfalke ihm das Leben gerettet hatte. Lächelnd sah er dem aufsteigenden Vogel nach.
Das Geräusch fallender Steine ließ ihn zusammenzucken und erinnerte ihn daran, dass er keine Zeit hatte, den Falken zu bewundern. Hektisch hielt der Junge Ausschau nach einem Weg zwischen Spalten und Klippen und rannte weiter.
Câyleân hatte zwölf Sommer am Fuß der Berge erlebt. Er kannte die Gefahren losen Gerölls und plötzlicher Abgründe ebenso gut, wie den Schrei des Riesenadlers. Vor dem vermeintlichen Laut des gefährlichsten aller Tiere im Vorgebirge, hatten die Verfolger Schutz gesucht. Auch der Knabe hätte schwören können, dass der gewaltige Greifvogel über ihnen kreiste, als er den Schatten sah. Doch der Vogel ängstigte ihn weniger, als die Männer, die ihn verfolgten.
Câyleâns Herz schlug rasend und die kalte Luft brannte bei jedem Atemzug in seinen Lungen. Er biss die Zähne zusammen und huschte hinter einen größeren Felsen. Fahrig strich er sich das schweißnasse Haar zurück und lauschte auf die Schritte seiner Verfolger. Noch hatten sie nicht aufgeholt. Câyleân hörte lediglich die rauen Stimmen von den Wänden widerhallen. Lange konnte er diesen Vorsprung nicht halten. Der Knabe drehte sich und schaute am Steilhang vor ihm empor. Dort oben lag die Höhle. In den vielen Gängen, die in der Grotte ihren Ursprung hatten, konnte er seine Verfolger abhängen. Câyleân atmete tief durch und machte sich an den Aufstieg. Es waren nur ein paar Meter, allerdings führten sie beinahe senkrecht eine raue Felswand hinauf. Dank der dünnen Ledersohlen seiner Fellstiefel spürte der Junge genau, wo er die Füße hinsetzen musste. Câyleân wusste, dass er nicht hinunterschauen sollte. Doch wenn man erst in so einer Wand hing, sich mit Fingern und Zehen festklammerte, dann sagte sich so etwas leicht. Als der Bursche aufgeregte Rufe hörte, wagte er einen Blick über die Schulter.
Unter ihm hasteten mehr als ein halbes Dutzend Männer zwischen den Felsen umher. Sie hielten Speere in ihren Händen und einer blieb sogar stehen und hob seinen Bogen. Die anderen erreichten nun den Brocken, hinter dem Câyleân sich Sekunden zuvor noch versteckte. Der Junge wandte den Blick rasch wieder nach oben und kletterte weiter. Er zuckte zusammen als ein Pfeil dicht neben ihm in den Fels stieß und ein Steinsplitter seine Wange ratschte. Die Jäger töteten ihn, wenn sie ihn fingen. Daran hatte Câyleân keinen Zweifel mehr. Der Gedanke beflügelte ihn ebenso, wie das Wissen um die nahe, schützende Höhle. Irgendwo unter ihm rollten kleine Steine. Einer der Männer fluchte lautstark. Der Knabe ließ sich nicht beirren. Er hörte, wie ein zweiter Pfeil über ihm im Gestein einschlug, und dankte still den Göttern, dass der schlechteste Schütze den Bogen hielt. Schließlich erreichte er den Eingang der Grotte, zog sich keuchend über die Kante, kroch weiter und rappelte sich auf.
Câyleân wankte mehr in die Dunkelheit, als dass er lief. Noch durfte er sich keine Pause gönnen. Die Gänge lagen am Ende der Höhle und die musste er wenigstens erreichen. Kaum ließ er den Eingangsbereich hinter sich, umschloss ihn Schwärze. In der Finsternis konnte der Knabe nur wenig erkennen. Flüsternd zählte er seine Schritte, um nicht gegen plötzlich aufragende Felssäulen zu laufen oder über Risse und Spalten im Boden zu stolpern. Den ganzen Sommer hatte der Junge mit Dânael in dieser Höhle gehaust. Er kannte sie und hielt ohne Umwege auf einen der Gänge zu. Dort drückte er sich rasch in eine schmale Nische und lauschte.
Rund um Câyleân tropfte es plätschernd von Stalaktiten. Das Geräusch wurde so oft von den Wänden zurückgeworfen, dass der Bursche kaum zu unterscheiden vermochte, welcher helle Klang zu einem neuen Tropfen und welcher zu einem Echo zählte. Abgesehen von dieser Tropfenmelodie, der Câyleân zu anderer Zeit gerne gelauscht hätte, vernahm der Junge nur seinen eigenen Herzschlag. Er versuchte flacher zu atmen und sein Herz leiser schlagen zu lassen, denn so laut wie es pochte, konnte es den Verfolgern gar nicht entgehen. Als ein paar Minuten lang nichts geschah – dem Knaben kam es wie eine kleine Ewigkeit vor – keimte neue Hoffnung in ihm auf. Die Männer hatten den Steilhang vielleicht nicht überwinden können und aufgegeben.
Doch dann zuckte Câyleân zusammen und drückte sich noch tiefer in die Nische. Als er die schweren Schritte seiner Verfolger hörte, wusste er, dass sie die Höhle betraten. Der Junge verstand die gereizten Stimmen, die von den Wänden widerhallten, zwar nicht, aber sie klangen alles andere als beruhigend. Spitze Steine bohrten sich in seinen Rücken. Er hielt die Luft an, als die Männer sich dem hinteren Teil der Grotte näherten. Den Geräuschen nach waren sie bereits ganz nah.
Plötzlich gellte ein unterdrückter Schmerzensschrei von den Felsen wider. Gleich darauf machten die Schritte kehrt. Trotz seiner Angst musste der Knabe grinsen. Sicher war einer der Verfolger in der Dunkelheit gegen eine Kante gestoßen. Zu seinem Glück hatten die Jäger keine Fackeln dabei. Noch einmal hörte der Junge die rauen Stimmen der Männer. Dann lauschte er den schweren Schritten, die sich langsam entfernten, und atmete erleichtert auf.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen