Samstag, 13. Februar 2010

Zwischen Wölfen und Königen 1.2

 Kapitel 1 | Szene 2

Zwischen Wölfen und Königen

(c) Sonja Murach


Créscáth
19. Tag des Ostarmanoth im Jahre 1143

Am Abend des Mondtages

Silvio erinnerte sich noch genau, wie er sich gefühlt hatte, als er das erste Mal zum Créscáth gereist war. Er betrat eine andere Welt, die der wirklichen wie ein Spiegel glich, bevölkert von farblosen, leblosen Schatten. Massive Gegenstände, wie die Wände von Sorchas Hütte, wirkten zum Teil durchscheinend. Silvio erkannte durch die äußere Hülle ein festes Gerüst - und dabei dachte er nicht an die Struktur des Baumes, aus dem die Bretter einst gesägt worden waren. Es sah aus wie Fäden, geschaffen aus einer eigentümlichen Energie. Sie beschreiben zu wollen, überstiege das Verständnis der meisten Erdenbürger. Lebende Wesen, gleich ob Pflanzen, Tiere oder Menschen, sah er lediglich als blasse, halbdurchsichtige Schatten der realen Gestalten. Zwischen den vier Weltenwanderern bedeckte grauer Nebel den Boden, wallte stetig auf.
„Es ist unheimlich“, hauchte Lillianna und legte fröstelnd die Arme um ihren nackten Körper.
„Es ist die Welt der Geister, der Seelen und der Ahnen“, erklärte Sorcha, „Eine Welt, die nur wenige begreifen. Selbst die weisesten und erfahrensten Reisenden durch den Scáth stehen immer wieder vor einem neuen Rätsel.“ Die Älteste blickte lächelnd erst zu ihrer Tochter, dann zu ihrem Schwiegersohn und sah schließlich Silvio auffordernd an. „Doch heute sollen die Geister uns helfen, ein Rätsel zu lösen. Setzt euch, Kinder.“

Silvio nickte der Eyrén knapp zu und löste sich von der Gruppe. Er war nicht nur hier, um seinem Bruder und dessen Frau Beistand zu leisten. Vor allem war er für die Sicherheit zuständig. Während Sorcha, Mario und Lillianna im Nebel Platz nahmen, verließ Silvio das durchscheinende Gerüst der Hütte. Unter seinen bloßen Füßen fühlte sich die Straße, die in der Realität aus festgetretenem Lehm bestand, unwirklich weich an. Durchsichtige Schatten bewegten sich auf dem Weg. Einige von ihnen schwebten gar hinter dem wässrigen Abbild eines Huftieres. Der groß gewachsene Paese wusste, dass die Leute in der realen Welt auf einem Karren oder in einer Kutsche saßen. Das Gefährt selbst war zu jung, um ein Ebenbild im Scáth zu hinterlassen.
Der junge Mann umrundete die Hütte und beobachtete sorgfältig die Umgebung. Am Kai, wo das große Lagerhaus stand, entdeckte Silvio ein paar Fionn Taibhse, Geister, die Strukturfäden erstellten und anordneten. Das Lagerhaus, das in der realen Welt noch nicht einmal zwei Jahre stand, war im Créscáth kaum zu sehen. Die Fionn Taibhse gaben dem Schatten Struktur und Halt, ließen ihn sichtbar und das Gebäude in der stofflichen Welt stark werden, damit es noch viele Jahre überdauerte. Die Geister arbeiteten langsam, dabei so gründlich und mit einem Geschick, dass Silvio stehen blieb und ihnen eine Weile zusah. Lächelnd beschloss er, Mario später davon zu erzählen. Doch dann riss er sich von dem Anblick los und zwang sich, seinen Rundgang zu beenden. Als er nichts Auffälliges entdeckte, trat er zurück in die Hütte, die hier im Créscáth noch viel zerbrechlicher aussah, als in Wirklichkeit.

Sorcha, Mario und Lillianna saßen auf dem Boden, als Silvio eintrat. Zwischen ihnen schwebten grüne Lichtkugeln, welche den Nebel ein wenig vertrieben. In der Mitte stand eine Schale ebenso real, wie sie in der Wirklichkeit war. Ein heißer Stein am Grund erhitzte das Wasser darin.
Wortlos ließ sich Silvio nieder. Er tunkte zwei Finger in eine weitere Tonschale, die Sorcha ihm hinhielt, und nahm braune Farbe auf. Zeigefinger und Mittelfinger setzte er mit etwas Abstand mittig auf seine behaarte Brust und zog zwei Linie bis auf den Bauch. Die Farbe fühlte sich auf seiner Haut wie warmer Schlamm an. Silvio zeichnete vier Querlinien durch die Parallelen und malte zum Schluss einen kleinen Bogen dazwischen auf seinen Bauch. Dies war das Zeichen seiner Sippe, den Mac Fíodóir, den Söhnen des Webers. Dasselbe Zeichen glänzte bereits auf Marios Körper. Silvio tunkte seine Finger noch einmal in die Farbe und malte sich einen Halbkreis auf die Stirn. Dies war das Symbol des Mondes, in dem er geboren war.
Mit einem wohlwollenden Lächeln nahm Sorcha die Schale wieder an sich. Auf ihrer Stirn glänzte ein voller, kreisrunder Punkt, denn die alte Frau war unter dem Vollmond geboren.
Auf die Oberkörper der beiden Frauen hatte Sorcha das Zeichen ihrer eigenen Sippe gemalt. Es zeigte eine stilisierte Schriftrolle mit einem beinahe vollem Mond darin und stand für die Mac Finscéal, die Söhne der Legende.

Sorcha stellte die Schale mit der Farbe neben sich und klaubte einige gehackte Kräuter und Pilze aus einem Tuch. Sie begann zu singen, während sie die Pflanzen in das heiße Wasser rieseln ließ. Ihrer kraftvollen Stimme merkte man das Alter nicht an. Schon nach den ersten Tönen fielen Silvio, Mario und Lillianna in das Gebet an die Geister und Ahnen ein.
Zu allererst baten sie Gealach, die Göttin des Mondes, um Schutz und Beistand während des Rituals, denn sie hatte großen Einfluss im Scáth, der Geisterwelt. Den zweite Vers des rhythmischen Gesangs widmeten sie Máthair Talamh, der Mutter Erde, für die sie mit jedem Atemzug kämpften. Den dritten Abschnitt sang die Alte allein und rief die Seelen ihrer Ahnen, den Mac Finscéal, zur Unterstützung. Ohne im Klang inne zu halten, wiederholte Silvio diese Strophe beinahe wortgetreu und rief die Seelen der Mac Fíodóir.
Die Älteste fiel in einen Sprechgesang, während die Übrigen im Kreis summend die Melodie dazu angaben. Sorcha hob die Tonschale mit beiden Händen und reichte sie ihrer Tochter. Lillianna nahm sie ebenso entgegen, trank einen Schluck und gab das Gefäß Silvio. Dieser beließ die warme Flüssigkeit einen Moment im Mund, genoss das würzige Aroma, ehe der Sud seine Kehle hinab rann und er das Gebräu Mario anbot. Zuletzt trank Sorcha und die Melodie der anderen verklang.
Stille hüllte sie ein.
Erst als die Schale wieder in der Mitte des Kreises stand, stimmten die Vier den Gesang von neuem an. Sorcha holte den warmen Stein aus dem Sud und zerrieb mit ihm die aufgeweichten Kräuter und Pilze. Das würzige Aroma, das Silvio noch schmeckte, kitzelte ihn nun auch in der Nase.
Sorcha verrührte den Brei mit der Hand, nahm eine großzügige Portion und malte damit das Symbol des Lebens auf den rundlichen Bauch ihrer Tochter. Lillianna war im sechsten Monat schwanger und dieses Ritual hielten sie für ihr Kind ab.
Die Älteste rieb ihre Hände aneinander und hielt sie dann über die Schale, als wollte sie ihre Glieder wärmen. Eine Kugel aus Glut entstand zwischen ihren Handflächen. Das Summen der drei Jüngeren verwandelte sich in offene Töne, ohne dass sie Worte aussprachen. Der Glutball schwebte zwischen Sorchas Händen. Als sie diese zurückzog, fiel das Licht in die Kräuterbrühe. Wasser zischte auf. Rauch umfing die Kugel, verschlang sie und suchte seinen Weg nach oben in den Nebel. Die Melodie verstummte auf ihrem Höhepunkt. Vier paar Augen fixierten die Schale, in welcher der Kräutersud kochte. Die Glutkugel schmolz langsam dahin und ließ neuen Rauch aufsteigen.

"Wir bitten heute für ungeborenes Leben." Sorcha lächelte Lillianna aufmunternd zu, ehe ihre grünen Augen nacheinander die Gesichter der beiden Männer erfassten. "Wir bitten die Geister um Rat und um Weisung." Silvio vermochte sie durch den Rauch, der weiterhin der Schale entsprang, kaum zu sehen, doch ihre Stimme drang klar an seine Ohren. "Lillianna", die Älteste griff nach der Hand ihrer Tochter, "du trägst das Kind in dir. Dir gehört die erste Frage."
Lillianna atmete tief durch, sah alle der Reihe nach an und sagte dann mit leiser Stimme: "Gaelach, Herrin des Mondes, bitte sage mir, wird mein Kind gesund sein?"
Silvio warf einen kurzen Blick auf seine Schwägerin und betrachtete dann die rauchende Schale. Es war die typische Frage einer werdenden Mutter. Sicher hatten die Geister, hatte Gaelach, sie schon unzählige Male gehört. Noch während der Schwarzhaarige darüber nachdachte, veränderte sich der formlose Qualm. Er nahm Gestalt an, wuchs in einer schmalen Säule empor und verdichtete sich in Augenhöhe der Sitzenden, bis er eine flackernde Kerze bildete.
"Das ist nicht möglich", hauchte Mario. Er war das erste Mal bei einem solchen Ritual anwesend und im Allgemeinen sehr skeptisch eingestellt. Hätten nicht Sorcha und Silvio darauf bestanden, er hätte sich gegen den Ritus ausgesprochen. Lilliannas Augen, die so grün waren, wie die ihrer Mutter, leuchteten vor Glück und Erleichterung. Da blies ein Wind durch den Kreis. Die Flamme aus Rauch flackerte auf und erlosch. Zurück blieb die Säule und eine feine Rauchfahne, die sich ihren Weg nach oben in den Nebel suchte.
Marios Augen wurden groß. Instinktiv griff sich Lillianna an den runden Bauch und auch auf Sorchas Gesicht zeichnete sich Sorge ab.
"Was bedeutet das?", fragte die werdende Mutter atemlos. "Mutter, was bedeutet das?"
Alle Blicke ruhten auf der Ältesten, die immer noch angestrengt die qualmende Schale fixierte. Silvios Augen weiteten sich, als ein neuer, dunklerer Rauchstoß die Säule empor schoss, den schmalen Docht umschloss und als neue Flamme ruhig auf der Kerze saß. Ganz langsam drängte neuer Rauch nach oben und umschlang das Bild der brennenden Kerze.
"Mutter?"
Die Furchen auf der Stirn der Ältesten glätteten sich. Ein Lächeln umspielte die schmalen Lippen. "Gaelach gab dir Antwort, meine Tochter. Dein Kind wird gesund auf die Welt kommen. Doch es wird von Gefahren umgeben. Eines Tages wird der Tod an seiner Seite stehen und nach ihm greifen. Doch dein Kind wird stark sein und den Tod besiegen."
Die Erleichterung der werdenden Eltern war spürbar. Silvio tastete nach ihren Händen und drückte sie, zum Zeichen, dass er immer an ihrer Seite wäre.

"Mario, dein Kind wird geboren, du wirst sein Vater. Die nächste Frage gehört dir." Auffordernd nickte Sorcha ihrem Schwiegersohn zu. Silvio vermochte ein Schmunzeln nicht zu unterdrücken, denn er ahnte, welche Frage seinem Bruder auf dem Herzen lag.
"Gaelach, bitte sage uns, werde ich einen Sohn haben?"
Das war seit Wochen ein heißer Diskussionspunkt, denn Mario sprach immerzu von seinem Sohn. Wenn Lillianna es zu hören bekam, hielt sie ihm jedes Mal vor, er könne nicht wissen, dass er einen Sohn bekäme und über eine Tochter freute er sich sicherlich genauso.
Der Rauch in der Schale wallte von neuem auf und schoss in die Höhe. Er verdichtete sich, doch ehe die Sitzenden ein Symbol erkennen konnten, flog eine Gestalt im Rauch hinab.
Silvio ruckte mit dem Kopf hoch. Aus den Augenwinkeln sah er eine Klinge aufblitzen. Da traf ihn Etwas hart am Kopf und es wurde dunkel um ihn.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen