Samstag, 16. Januar 2010

Joseph Graham

Joseph Graham
Richter in der Hölle
(c) Sonja Murach


„Willkommen Ladys und Gentlemen.
Ich möchte Ihnen heute einen Mann vorstellen, den man auf den ersten Blick als gewöhnlich bezeichnen könnte: Joseph Graham.“

Lächelnd sah der Redner auf das halbe Dutzend Gestalten, das, auf Klappstühlen sitzend, gebannt zu ihm hinauf schaute. Sie wirkten verloren in der riesigen Halle, doch das war dem Redner egal. Er stand auf einer zwei Fuß hohen, improvisierten Bühne, die größtenteils im Dunkeln lag. Nur ein einziges Spotlicht zeigte auf den Redner und grenzte ihn von der Dunkelheit ab.
„Freunde nennen ihn meist Joe oder Joey.“
Der Redner ließ die wenigen Worte einen Moment auf sein Publikum wirken, doch das erhoffte Resultat aus Raunen und Rufen blieb aus. Gedanklich hob er die Schultern und fuhr fort.

„Joseph Graham wurde am 25. März 1977 geboren. Seine Familie war Bestandteil der oberen Mittelschicht, wie tausend andere amerikanische Leute auch. Josephs Vater hieß Donald Graham. Dieser im Jahr 1949 geborene Mann war ein langweiliger Mensch mit einem langweiligen Leben. Don war Professor der Mathematik und unterrichtete im Laufe seines Lebens an verschiedenen Bildungsinstituten von der Highschool bis zur Universität. Der Alltag von Donald Graham bestand aus Zahlen und Statistiken. Sicher liebte er seine Familie, war allerdings nur bedingt zu zwischenmenschlichen Beziehungen in der Lage.
Donald Graham starb 1999, kurz nach seinem 50. Geburtstag, an Lungenkrebs.
Er hinterließ eine Frau.
Josephs Mutter, Victoria Graham, eine geborene Hersfield, entstammt dem Jahrgang 1954. Sie lebt noch und ist heute 71 Jahre alt. Über Vicky gibt es nicht viel zu sagen. Seit ihrer Hochzeit und der Geburt ihres ersten Sohnes war sie nicht mehr, als Gattin eines Professors, Hausfrau und liebende Mutter für Joseph und dessen Geschwister.
Isaac ist drei Jahre älter als Joseph und somit vom Jahrgang 1974. Er folgte dem Beispiel des Vaters und wurde Lehrer. Zu einem wirklichen Professor schaffte er es allerdings nie. Seit Jahren unterrichtet er an derselben Highschool. Das Geld reicht um seine Frau und seinen inzwischen erwachsenen Sohn zu ernähren.
Rachel ist vier Jahre jünger als Joseph, folglich aus dem Jahrgang 1981. Sie wurde Sozialpädagogin und arbeitet in einem Heim für geistig behinderte Kinder. Rachel ist geschieden und hat aus dieser Ehe eine inzwischen 16jährige Tochter.

Soviel also zu der Familie, die Josephs Kindheit beeinflusste. Ich werde mich später noch genauer zu diesem Bereich seines Lebens äußern. Gehen wir vorerst weiter zu seiner eigenen Familie und beginnen mit der Ehefrau.
Elisabeth Graham ist eine geborene Watson. Sie ist acht Jahre jünger als Joe, folglich gerade 40 Jahre und im Jahr 1985 geboren. Beth, wie sie in der Regel genannt wird, ist Heilpädagogin und Arbeitskollegin von Rachel. Sie ist nicht Josephs erste Frau, diese starb durch einen Autounfall, aber sie ist die Mutter seiner Kinder.
Lukas kam im Winter 2005 zur Welt. Ebenso wie Tochter Lindsey, die im Herbst 2008 geboren wurde, machte er seinen Eltern nie Probleme. Beide Kinder erlebten eine glückliche Kindheit in einer weitgehend intakten Familie. Joseph war ein strenger, aber fairer Vater, während die Mutter sich schon mal erweichen ließ.
Lindsey besucht inzwischen die Abschlussklasse der Highschool und wohnt noch zu Hause.
Lukas ereilte aber ein tragisches Schicksal. Gerade eben 18jährig, brannte er mit seiner schwangeren Highschool-Freundin durch und heiratete das Mädchen ohne Wissen der Eltern. Nach einem Jahr voll Familienstreit mit allen beteiligten Eltern, raufte sich das junge Paar zusammen. Nach langen Gesprächen nahm Lukas mit seiner kleinen Familie eine Wohnung nahe dem Elternhaus und begann eine Ausbildung als Verkäufer.
Im Frühjahr 2025 wurde er allerdings Witwer und verlor sein Kind. Eine tragische Geschichte. Auch darauf werde ich später noch näher eingehen. Josephs Enkelin, die kleine Rhianna, wurde nur zwei Jahre alt. Sie und ihre Mutter Doreen wurden bei einem Überfall auf eine Tankstelle erschossen.“

Während seines Monologs lief der Redner am Rand der kleinen Bühne auf und ab, immer im Rampenlicht, und warf ab und zu einen Blick auf sein kleines Publikum. Er blieb stehen und erkannte befriedigt, dass die Leute immer noch an seinen Lippen hingen und auf den Höhepunkt warteten.
„Joseph Graham ist ein waschechter New Yorker. Die meiste Zeit seines Lebens hat er in den verschiedenen Stadtteilen gewohnt. Zuletzt war es Queens. Allerdings habe ich aus sicheren Quellen erfahren, dass ein Umzug nach Manhattan unmittelbar bevorsteht. Ich bezweifle, dass er New York jemals verlassen wird.“
Ein geradezu diabolisches Grinsen zeichnete sich auf den Lippen des Redners ab und er ließ seine Worte erneut wirken, ehe er weiter sprach.

„Noch ist Graham nicht verurteilt. Das wird er auch nicht – zumindest nicht von einem staatlichen Gericht. Wir werden ihn allerdings verurteilen. Ich würde sagen, die Anklage lautet folgender Maßen:
- Missbrauch der Staatsgewalt
- Freiheitsberaubung
- Mord
Und das alles in so vielen Fällen, dass es sich nicht lohnt, auf jeden einzeln einzugehen.“
Das Grinsen des Redners nahm die Züge eines Grinch an und nach diesen Worten regte sich auch sein Publikum. Zustimmendes Raunen und einzelne Rufe schallten durch die Halle. Der Redner hob eine Hand um seine Zuhörer zu beruhigen.
„Haben sie noch einen Moment Geduld, Ladys und Gentlemen. Ehe wir mit dem eigentlichen Prozess beginnen, lassen sie uns kurz überlegen, ob das Urteil nicht vielleicht zu hart ist.“
Sekundenlang herrschte Stille in der Lagerhalle. Dann brach das halbe Dutzend Zuhörer in Gelächter aus, dem auch der Redner nicht ganz widerstehen konnte. Schmunzelnd winkte er ab.
„Ich meine das ernst. Niemand von uns weiß wirklich, wie es in Manhattan aussieht – Gott sei Dank, möchte ich behaupten. Aber ich kann mir vorstellen, dass es dort Gruppierungen und Gangs gibt, wie man es aus jedem Knast kennt. Ob der gute Joseph sich einen von ihnen anschließen kann? Oder – wollen sie ihn vielleicht lieber alle lynchen?“
Der Redner wartete, bis erneutes Gelächter verklungen war, ehe er weiter sprach.
„Ich würde zu gerne Mäuschen spielen und sehen, wie sich der gute Richter Joseph Graham unter seinen Verurteilten schlägt.“

Unter Beifall, dass sich in der riesigen Lagerhalle irgendwie armselig anhörte, für den Redner aber Musik in den Ohren war, trat dieser ein paar Schritte nach hinten. Das Scheinwerferlicht folgte ihm, wobei der Lichtstrahl größer wurde und schließlich nicht nur den Sprecher, sondern auch die zweite Gestalt beleuchtete.
„Sehen sie ihn sich an, Ladys und Gentlemen. Richter Joseph Graham.“
Der Redner überragte Joseph Graham bereits, wenn dieser stand. Mit 167cm war der Richter alles andere als ein Riese.
„Laut Pass zählt unser großer Richter immerhin 1,70m, aber das auch nur auf dem Papier.“
Aus dem Publikum war leises Gelächter zu hören, während Graham ein Grunzen zustande brauchte, als der Sprecher ihm eine Hand auf die Schulter legte. Zu mehr war der ältere Mann kaum in der Lage. Ein breiter Streifen silbernen Klebebandes verdeckte die schmalen Lippen und einen teil des Bartes.
„Das wird sicher wehtun, wenn wir es abziehen.“
Der Sprecher deutete mit dem Zeigefinger auf das Klebeband, zwinkerte dem Richter zu und trat hinter diesen. Die Hände legte er auf die muskulösen Schultern des Mannes.

Graham war mit weiterem Klebeband an den Stuhl gefesselt. Seine Peiniger hatten sich nicht damit begnügt, ihm die Hände hinter die Lehne zu binden und die Knöchel an die Stuhlbeine zu kleben. Ein breiter Streifen mehrfachen Klebebandes wickelte ihn im Brustbereich geradezu ein und erschwerte ihm zusätzlich das Atmen. Den Peiniger kümmerte der Zustand seines Angeklagten wenig. Mit einer Hand deutete an dem ovalen Gesicht des Richters entlang.
„Lassen sie sich nicht durch seinen Zustand abschrecken. Unser Gast wurde besser behandelt, als er es verdient hätte.“
Diese subjektive Meinung des Redners hätte Graham selbst sicher nicht bestätigt, wäre er in der Lage dazu gewesen. Sein Kopf dröhnte. Der Richter wusste, dass Platzwunden seine Geheimratsecken, die mit jedem Jahr größer wurden, zierten. Das Haar des Mannes, eigentlich von hellbrauner Farbe, inzwischen aber von grauen Strähnen durchsetzt, war von getrocknetem Blut verklebt. Ebenso hielt es sich mit dem Bart – zumindest der Teil, der nicht vom Klebeband bedeckt war. Immerhin hatten sie ihm nicht die Nase gebrochen. Sie war immer noch schmal und grade und im Moment wohl das Hübscheste in seinem Gesicht.
Die braunen Augen des Familienvaters waren so geschwollen, dass die ersten Falten kaum noch auffielen. Zeit seines Lebens war die Freude eben daran in den Seelenfenstern zu lesen gewesen. Selbst bei dem erwachsenen Mann funkelten die Augen oft bubenhaft und schelmisch auf.
Vor seinen Peinigern zur Schau gestellt, war lediglich Mordlust in den Augen zu erkennen. Der Redner, der ohnehin hinter dem Gefesselten stand, störte sich daran nicht.

„Richter Joseph Graham. Normalerweise bekommt unsereins ihn nur in seiner Robe zu sehen. Dabei zieht unser guter Richter in seiner Freizeit ein legeres Outfit vor. Meistens sieht man ihn in Polohemden, Pullovern, Jeans und Sportschuhen.
Ich will ihnen noch ein wenig über den Mann erzählen, den wir verurteilen werden, Ladys und Gentlemen.
Er ist ein Mann mit Sportsgeist. Es sollte niemanden wundern, der ihn kennt. Der liebe Joey treibt gerne Sport und ernährt sich gesund. Wäre er nicht grade so demoliert, würden wir das seinem Körper auch ansehen können. Ein schlanker und athletischer Körper, der die Blicke der Frauen sicher auf sich zieht.
Apropos Frauen.“
Der Redner hob einen Zeigefinger, als sei ihm etwas Wichtiges eingefallen und trat neben seinen Gefangenen. Mit einem entschuldigenden Lächeln zu diesem, zupfte er den kurzen Ärmel des Polo-Shirts die rechte Schulter hinauf.
„Ein Tattoo. Sie sehen ein Kreuz im viktorianischen Stiel. Darunter ist der Name Lianna eingestochen. Hübsch, nicht wahr?“
Lächelnd schaute der Sprecher wieder zu seinen Zuhörern hinab.
„Auf die Bedeutung komme ich später zurück.“

„Erst einmal“, der Redner führte die Fingerspitzen vor seinem Körper zusammen und trat erneut an den Rand der Bühne, „möchte ich die anderen Besonderheiten unseres Gastes nicht unerwähnt lassen.
Joseph Graham wäre kein Richter, wenn er sich nicht mit Gesetzestexten auskennen würde. Sein Spezialgebiet ist das Jugendschutz und –strafgesetz. Ohne sein Amt schmälern zu wollen – er ist eben nur ein kleiner Jugendrichter. Eine Position, in der er dennoch eine Menge Schaden angerichtet hat. Auch dazu später mehr.
Wir wollen hier nicht nur den Richter sehen, sondern den Mann Joseph Graham als Ganzes.
Dass er Sportler ist, erwähnte ich bereits. Football ist sein heimliches Vergnügen, auch wenn er allmählich zu alt für diesen Sport wird.
Ebenso hat es ihm der Motorsport angetan. Der kleine Joey liebt schnelle Autos. In seinem Urlaub nimmt er an lokalen Meisterschaften teil und natürlich bastelt er auch gern an einem Auto herum.

Ein Richter, der nicht fair ist, ist kein guter Richter. Die längste Zeit seines Lebens war Joseph jedoch eben dies.
Sportsgeist, Fairness, Toleranz, Rücksichtnahme. Dies alles sind Worte, die eine Bedeutung im Leben des Richters hatten. Wären sie immer noch so bedeutungsvoll, würden wir nicht hier sitzen.
Ich erwähnte den Tod der Schwiegertochter und der Enkelin, ja? Wie es dazu kam, erzähle ich später - wenn wir noch Zeit dazu haben. Seit dem Mord an diesen Beiden ist der Richter in vielen Bereichen wie ausgewechselt.
Er lacht immer noch gerne. Sport und seine Familie ist ihm ebenso wichtig wie sein Job. Aber er ist strenger geworden. Lindsey dürfte ein Lied davon singen dürfen.
Und wir alle bilden den Background Chor."
Der Redner breitete seine Arme in einer Geste aus, die ihn und seine Zuschauer umfasste.
"Verzeihen sie mir diesen kleinen Vergleich, Ladys und Gentlemen, aber er ist passend. Joeys Tochter leidet lediglich unter einem vor Sorge überstrengen Vater. Wir leiden aber unter einem unverantwortlich strengen Richter!"

Wäre Joseph nicht an diesen Stuhl gefesselt, hätte er jeden Sportsgeist und Gerechtigkeitssinn vergessen. Er war beinahe blind, was mehr an seiner Wut, als dem zu geschwollnem Auge lag. Im Allgemeinen dauerte es wirklich lange, bis man Joseph Graham soweit gereizt hatte, dass er zuschlug. Niemals hatte er die Hand gegen seine Frau oder seine Kinder erhoben. Ein einziges Mal hatte er einem Nachbarn ein blaues Auge verpasst und das auch nur, weil dieser den damals zehnjährigen Lukas wie ein Wilder geschüttelt hatte. Lukas hatte mit einem Fußball das Fenster des Nachbarn zerdeppert. Wirklich, es gab wenig, dass Joe wütend machen konnte. Unfairness zählte dazu, aber viel mehr noch ein böses Wort oder eine eben solche Tat gegen seine Familie.
Dies war auch die Veränderung, von welcher der Peiniger sprach. Der Richter war ein Familienmensch, der gerne lachte. Er liebte gemeinsame Aktivitäten, die meistens etwas mit Sportlichkeit zutun hatten. Aber ebenso gut konnte er auch einen gemütlich Abend zu Hause vor dem Fernseher oder bei einem Gesellschaftsspiel verbringen.
Als aber Doreen und Rhianna ermordet wurden, hatte ihm jemand den Krieg erklärt. Richter Graham, der seine Trauer Zuhause nicht zeigen konnte, weil er der Fels und der Halt für Gattin und Kinder war, verwandelte diese Trauer in Zorn. Er ließ sich auf den Krieg ein und verwandelte seinen Gerichtssaal zum Schlachtfeld. Er gewann jedes Scharmützel, indem er die Angeklagten stellvertretend für die Mörder seiner Schwiegertochter und seiner Enkelin härter bestrafte als jemals zuvor.

„Vielleicht ist dem Richter nicht einmal bewusst, wie sehr er bei all dem über die Strenge schlug.“ Der Redner faltete die Hände und betrachtete seinen Gefangen einen Augenblick lang.
„Nun, er mag bisher die Schlachten gewonnen haben, aber den Krieg gewinnen wir – heute Nacht!“

Der Redner hob den Kopf und schaute über sein Publikum hinweg, als eine Seitentür der Lagerhalle geräuschvoll geöffnet wurde. Abwartend beobachtete er, wie ein Bär von einem Mann näher kam, verfolgt von den Blicken der Zuschauer. Der selbsternannte Richter hockte sich gar an den Rand der Bühne, als der Neuankömmling dort stehen blieb und lauschte dessen leise Worte. Sie waren so wenig für das Publikum bestimmt, wie für Graham. Schließlich nickte der Redner und richtete sich wieder auf. Während der wandelnde Schrank seinen Platz seitlich der Bühne fand, hob der Sprecher die Arme.

„Ladys und Gentlemen, sie werden sicher ebenso erfreut zu hören wie ich, dass der Vollstreckung unseres Urteils nichts mehr im Wege steht. Allerdings haben wir noch mehr als genug Zeit, einige Einzelheiten zu beleuchten, was Richter Graham betrifft. Ich denke, im Interesse der Allgemeinheit wollen wir nicht unenthüllt lassen, wie aus einem engagierten Bürger unserer Stadt ein Verbrecher wurde.“ Der Redner drehte sich leicht und warf einen Unheil verheißenden Blick auf seinen Gefangen. Die Augen wieder seinen Hörer zuwendend, wanderte er gemächlich am Rand der Bühne auf und ab, während er seinen Monolog hielt.

„Ich erwähnte bereits, dass der kleine Joey im Frühjahr 1977 als zweites Kind einer amerikanischen Durchschnittfamilie zur Welt kam. Genau so war auch seine gesamte Kindheit – durchschnittlich. Donald Graham ging arbeiten, während Victoria Heim und Kinder versorgte. Der Vater war das Oberhaupt, aber die Kinder hatten ein besseres Verhältnis zur Mutter. Sie war ganz einfach wärmer als der Vater.
Zu seinen Geschwistern hatte Joe immer ein gutes Verhältnis. Die Brüder Isaak und Joseph waren beide Sport begeistert, während die kleine Schwester Rachel eher eine Einzelgängerin war. Bereits damals zeichnete sich ab, dass Wettkämpfe, ganz besonders ein Sieg, für den jungen Joe einen ebenso hohen Stellenwert hatten, wie Familie und Freundschaft. Der kleine Joseph hasste es zu verlieren, aber er verachtete Unfairness. In der Familie wurde sehr auf Werte wie Freundschaft, Nächstenliebe, Akzeptanz und Toleranz geachtet. Diese Erziehung trugen alle drei Kinder auch in die Schule. Die Welt des Schulhofes war grausamer als das Elternhaus, aber die Graham-Kinder schafften es stets, sich aus dem größten Ärger raus zu halten.
Als Kind hatte Joseph einige Freunde, in der Regel ebenso kleine Sportler, wie er selbst einer war. In der Schule brauchte er sich nie sonderlich anstrengen. Er war eines der glücklichen Kinder, dass auf dem Sportplatz herum tollte und dennoch gute Noten schrieb, während andere Stunden lang büffeln mussten.
Das änderte sich auch nicht in der Highschool und auf diese Weise konnte der Schüler seine beiden Hobbys problemlos unter einen Hut bringen – Football, Joe spielte in der Highschool Mannschaft, und Autorennen. Als Isaac seinen Führerschein machte und zum 16. Geburtstag sein erstes Auto geschenkt bekam, waren die Brüder schon lange begeisterte Motorsport Fans.
Damals verstieß Joseph zum ersten Mal gegen das Gesetz. Er fuhr des Öfteren mit dem Wagen seines Bruders, lange bevor er einen eigenen Führerschein hatte. Allerdings gehörte er erneut zu den Glücklichen – er wurde nie erwischt.“

Der Redner räusperte sich einmal. Der lange Monolog sorgte für eine trockene Kehle und er winkte dem Schrank. Entgegen jeden klischeehaften Erwartungen verstand dieser den Wink und setzte sich in Bewegung. Der Redner strich sich nachdenklich über das Kinn und betrachtete Graham, der einfach nur da saß und alles über sich ergehen ließ. Eine andere Wahl hatte der Richter ohnehin nicht. Im Publikum wurde es unruhig, aber der Sprecher wartete, bis er etwas zu Trinken hatte, ehe er fort fuhr.

„Nun, Ladys und Gentlemen, überspringen wir ein paar Jahre.
Nach der Highschool ging Joseph nach Harvard, wo er Jura studierte. Wie für die meisten Studenten, war es auch für unseren lieben Joey eine Zeit des Feierns und des Lernens. Beides ging ihm leicht von der Hand, denn er war beliebt unter seinen Kameraden. Joe war Mitglied einer Stundenverbindung, betrank sich genau wie alle anderen an den Freitagabenden und nahm an fragwürdigen Mutproben teil, die er seinen eigenen Kindern nie gestatten würde. Nach einer dieser Mutproben, die mit Autos, Geschwindigkeit und Alkohol zutun hatte, wäre er beinahe von der Uni geflogen. Nur weil Joe nicht selbst gefahren ist, durfte er seinen Führerschein behalten. Andere hatten nicht so viel Glück. Aber…“ der Redner winkte ab, während er erneut am Rand der improvisierten Bühne entlang wanderte. „…das Alles sind Anekdoten, wie sie in jedem Leben auftauchen.
Das wirklich Interessante in dieser Zeit ist Lianna.
Lianna Jackson studierte ebenfalls Jura. Im Gegensatz zu Joseph, der tatsächlich plante der erfolgreichste Staranwalt aller Zeiten zu werden, war Lianna bescheiden aber ehrgeizig. Sie wollte die Jugend vertreten. Joseph musste stets lächeln, wenn sie erzählte, wie sie später als Richterin Adoptionen zustimmen, Familien wieder zusammen und fehlgeleitete Jugendliche auf den richtigen Weg führen würde. Joseph liebte Lianna von ihrem hübschen Lächeln bis zu ihrer Rosa-Sonnenbrillen-Einstellung. Die Studentin schaffte es sogar, ihren Freund von den waghalsigsten Mutproben abzuhalten. Joseph und Lianna machten Pläne.“
Der Sprecher machte eine theatralische Pause und fuhr dann fort: „Lianna starb bei einem Verkehrsunfall zwei Wochen nach der Hochzeit. Es gab keine Verantwortlichen und keine Schuldigen. Eine Verkettung unglücklicher Zufälle und das Leben von Josephs Liebe war vorbei. Er trauerte lange und vergaß darüber seinen Traum als Staranwalt. Stattdessen lebte er Liannas Wunschtraum weiter, indem er Jugendrichter wurde.

Richter Graham stand in dem Ruf, keine Frau an sich heran zu lassen. Joseph hatte zwar das eine oder andere seltene Date, doch nie wurde etwas Ernstes daraus. Rachel, die kleine Schwester, redete lange auf Joe ein. Er konnte doch nicht für den Rest seines Lebens Lianna nachtrauern – immerhin war er bereits 26. Irgendwann verschaffte sie ihm ein Date mit ihrer neuen Arbeitskollegin Beth.
Zu Anfang hasste Joseph die kleine Schwester für die Kuppelei. Elisabeth war bei weitem nicht der erste Versuch. Aber im Gegensatz zu den Anderen, konnte Joe sich mit Beth wenigstens gut unterhalten. Das Gesprächthema drehte sich zwar überwiegend um die Arbeit, aber viel zu viel Wein lockerte die Stimmung auf. Das erste Mal seit Liannas Tod schlief eine Frau im Bett des Richters. Es blieb nicht bei einem Date. Beth wusste zwar von der ersten Frau und dass Joe diese immer lieben würde, doch sollte sie eifersüchtig auf eine Tote sein? Als sie Joseph erzählte, sie sei schwanger, machte dieser ihr einen Heiratsantrag.“
„Und sie lebten glücklich, bis an sein Ende – also heute.“
Der Redner hatte noch den Mund offen stehen und drehte sich von seinem Publikum weg zu dem Schrank, der ihn so dreist unterbrochen hatte. Der bullige Mann hob seelenruhig die Schultern und brummte.
„Dass er ein guter Ehemann und Vater ist, wissen wir bereits. Komm zum Punkt. Ich hab gesagt, wir haben Zeit, nicht der Hubschrauber wartet ewig.“
Der Redner wurde rot, klappte den Mund zu und wieder auf und hätte diesen Idioten am Liebsten in seine Schranken gewiesen.
Das kleine Publikum bewegte sich unruhig auf den Stühlen und im Grunde hatte der Kerl sogar Recht. Sie mussten einen Zeitplan einhalten. Schnaubend drehte sich der Sprecher wieder den Zuhörern zu und nahm den Faden auf.

„Ja, sie lebten glücklich und friedlich. Richter Graham war beliebt in der Familie, bei den Kollegen und sogar bei den straffälligen Jugendlichen. Er war dafür bekannt, die Kids nicht einfach weg zu sperren, sondern ihnen helfen zu wollen. Unter Grahams Führung entstanden Projekte der Wiedereingliederung in die Gesellschaft und die Familien. Gegen alle Kritiker waren die Erfolge über die Jahre größer als die Misserfolge. Familie Graham ging es gut.
Daran konnte auch der Tod von Donald Graham 1999 nichts ändern. Der Professor starb an Krebs. Natürlich war es traurig, aber Joes Bindung zum Vater war nie besonders eng und immerhin starben viele Väter an dieser Krankheit. Es war der Lauf der Dinge.
Für den Richter war der Umgang mit dem rebellischen Sohn, der einfach mit seiner schwangeren Freundin durchbrannte, schwerer zu verarbeiten als der Tod des Vaters. Doch dies erwähnte ich bereits. Sie rauften sich zusammen und das Glück war mit Schwiegertochter Doreen und der kleinen Rhianna wieder komplett.“
Der Redner atmete tief durch und trank einen Schluck aus dem Becher, den er immer noch in einer Hand hielt.
„Kommen wir zum Punkt.

Doreen wollte lediglich Windeln im nahen Drugstore kaufen. Dummerweise begab sie sich damit zur falschen Zeit an den falschen Ort, denn während Mutter und Kind zwischen den Regalen umher liefen, stürmten ein paar vermummte Halbwüchsige herein. Später sagte der Junge, der geschossen hatte, die Waffe wäre von allein losgegangen. Sie wollten doch nur das Geld aus der Kasse haben. Geglaubt hat es ihnen niemand. Der Verkäufer an der Kasse kam mit einem glatten Durchschuss davon. Eine weitere Mitarbeiterin und eine Hand voll Kunden hatten einen Schock und leichte Blessuren. Doreen und das Kind waren aber tot.
Es war ein Schock für die Familie. Allen voran natürlich für Lukas – der hatte immerhin seine Familie verloren. Doch als der Richter erfuhr, dass diese Jugendlichen nur einen Tag vor dem Überfall seinen Gerichtssaal mit einer milden Bewährungsstrafe verlassen hatten, zerbrach etwas in ihm. Die Jugendlichen hatten Richter Graham den Krieg erklärt und er führte von nun an die Schlachten in seinem Gerichtssaal.“

Joseph hätte am Liebsten aufgelacht, doch das Klebeband hinderte ihn daran. Es war irgendwie seltsam, dass dieser Fatzke nun genau die Worte in den Mund nahm, die er selbst zuvor gedacht hatte. Der Peiniger sprach weiter, behauptete die Gefühle des Richters verstehen zu können, sähe das aber nicht als Entschuldigung seiner Taten. Dabei hatte er nichts anderes getan, als diese Verbrecher dort hin zu bringen, wo sie hingehörten.
Joseph blinzelte, als der Scheinwerfer ihn noch einmal ins Visier nahm. Der Peiniger sprach von der Urteilsverkündung. Das Licht glitt weiter zum Publikum wo es die Hand voll Leute anstrahlte. Eine Frau stand auf und keifte los. Joe schloss resignierend die Augen und lauschte lediglich der Stimme. Er wünschte, auch diese aussperren zu können.
Das hier war keine Verhandlung, sondern eine Farce. Das Urteil stand bereits vor zwei Tagen fest, als sie ihn nur wenige Schritte vor seinem Haus in einen Lieferwagen gezerrt hatten. Sie hatten ihn verprügelt, eingesperrt, ihn in seinem Dreck liegen und hungern lassen. Erst kurz vor dieser Verhandlung hatten sie ihm mit einem Gartenschlauch abgespritzt und ihm kalte Brühe zu trinken gegeben. Vermutlich nur, damit er dieses Schauspiel auch durchhielt.
Joe folgte den Worten der Jury kaum. Er wusste genau, was sie ihm vorwarfen, denn sie hatten es ihm in den letzten 24 Stunden unzählige Male an den Kopf geknallt. Er hatte die Kinder dieser Leute nach Manhattan gebracht. Sie waren wirklich noch Kinder gewesen, alle zwischen 16 und 21. Aber sie waren alle Verbrecher – Mörder, Drogendealer, Vergewaltiger. Die Eltern mochten nun weinen, weil ihre Kinder mit erwachsenen Schwerverbrechern zusammen gesperrt wurden – Lebenslänglich. Sie sagten, er hätte damit den Tod dieser Kinder zu verantworten. Doch Joseph hatte richtig gehandelt. Nichts, was diese Leute ihm antun konnten, würde etwas an seiner Einstellung ändern.
Einer nach dem Anderen war aufgestanden und hatte noch einmal seine ganz persönliche Anklage ausgerufen. Nun riefen sie im Chor: „Schuldig! Schuldig! Schuldig!“
Es hallte surreal von den Wänden wieder. Der Redner hockte sich vor den Gefesselten und Joe hätte ihm am Liebsten das Grinsen aus dem Gesicht geprügelt.
„Schuldig“, sagte er, während der Chor hinter ihm weiter klang: „Ich wünsche ihnen alles Gute in Manhattan, Richter Graham.“
Joseph spürte noch, wie der Bullige hinter ihn trat. Er stemmte sich gegen seine Fesseln aus Klebeband und in ihm wuchs die Kraft eines Verzweifelten. Den neuen, dumpfen Schmerz in seinem ohnehin pochenden Schädel spürte der Mann kaum. Es wurde dunkel um Richter Graham.

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