Sonntag, 3. August 2014

Über die Erste Erkenntnis

ISBN: 978-3-548-74119-2

Eine uralte Handschrift

"Er behauptete, dass die Handschrift aus dem Jahr 600 vor Christus stammte und eine massive Transformation der menschlichen Gesellschaft voraussagt."
"Für wann?"
"Für die letzten Jahrzehnte des zwanzigsten Jahrhunderts."
"Für jetzt?"
"Ja, jetzt."
"Um was für eine Transformation soll es sich denn handeln?", fragte ich.
Sie wirkte ein wenig verlegen, bevor sie mit Nachdruck weiter sprach. "Der Priester ließ mich wissen, dass es sich um eine Wiedergeburt des Bewusstseins handelt, die sehr langsam vonstatten geht. Sie ist spiritueller und nicht religiöser Natur. Wir sind angeblich dabei, etwas bahnbrechend Neues über die menschliche Lebensform auf diesem Planeten zu entdecken, etwas, das uns den Sinn unserer Existenz erklären und unsere Kultur dramatisch verändern wird."
Wieder hielt sie inne und fügte hinzu: "Der Priester sagte mir, dass die Handschrift aus unterschiedlichen Abschnitten bestehe, von denen jeder eine besondere Erkenntnis über unser Leben enthält. Die Schrift sagt voraus, dass die Menschen unserer Zeit damit beginnen werden, diese Erkenntnisse eine nach der anderen zu verstehen, und sich dadurch auf eine vollkommen spirituelle Daseinsform zubewegen."
(S. 13)

Die innere Unruhe

"Genau das ist es! Zuerst sind wir verunsichert. Dem Manuskript zufolge beginnt damit unsere Einsicht in eine andere, neue Form des Erlebens... Gewisse Lebenssituationen scheinen urplötzlich eine andere Qualität zu haben, sie sind intensiver und anregender. Doch wissen wir weder, was das Wesen dieser Erfahrung ist, noch wie wir diese inspirierenden Momente halten können. Und wenn sie vorüber sind, fühlen wir uns unbefriedigt und rastlos, gefangen in einem Leben, das nun wieder gewöhnlich und uninteressant zu sein scheint."
"Du meinst, dass innere Unruhe hinter dem Ausbruch der Frau gestanden hat?"
"Ja. Sie unterscheidet sich darin kein bisschen von uns. Wir alle suchen nach einem kleinen bisschen mehr Erfüllung und wollen nichts mehr mit Dingen zu tun haben, die uns runterziehen. Diese Unruhe steht hinter dieser 'Ich-zuerst'-Einstellung der letzten Jahrzehnte und betrifft jeden, von den Jungs auf der Wall Street bis hin zu denen in den Straßengangs."
Sie sah mir direkt in die Augen. "Und was Beziehungen angeht, haben wir so hohe Anforderungen entwickelt, dass wir sie nahezu unmöglich machen."
Automatisch erinnerte ich mich bei diesen Worten an meine beiden letzten Beziehungen. Beide hatten mit der gleichen Intensität begonnen und waren vor Ablauf eines Jahres gründlichst gescheitert. Als ich meine Aufmerksamkeit wieder Charlene zu wandte, wartete sie noch auf meine Antwort.
"Und was machen wir in unseren Beziehungen falsch?" fragte ich.
"Auch darüber habe ich mit dem Priester lange Zeit gesprochen", erwiderte sie. "Er meinte, dass ein Krieg des Egos unvermeidlich ist, wenn beide Partner innerhalb einer Beziehung zu fordernd sind und vom anderen verlangen, in seiner Welt aufzugehen oder für seine Aktivitäten dauernd verfügbar zu sein."
Was sie sagte, kam mir nur allzu bekannt vor. Meine beiden letzten Beziehungen waren im wahrsten Sinne des Wortes zu reinen Machtkämpfen verkommen. In beiden hatte sich ein starker Interessenkonflikt gezeigt, war alles zu schnell gegangen. Wir hatten uns zuwenig Zeit genommen, um über unsere unterschiedlichen Ansichten zu sprechen, Ansichten darüber, was wir mit unserer Zeit anfangen sollten, welchen Weg wie einschlagen und welchen Interessen wir gemeinsam nachgehen sollten. Am Ende war der Streit darüber, wer den Ton angab und den Tagesablauf bestimmte, zu einem unüberwindlichen Hindernis geworden.
"Aufgrund dieser Machtkämpfe", fuhr Charlene fort, "wird es immer schwieriger, mit einer Person für längere Zeit zusammenzubleiben."
"Klingt nicht sonderlich spirituell."
"Das habe ich dem Priester auch gesagt", erwiderte sie. "Doch gab er zu bedenken, dass die meisten gesellschaftlichen Missstände auf diese innere Unruhe zurückzuführen seien; dass diese Probleme nur vorübergehender Natur sind und schließlich überwunden werden. Dann werden wir endlich verstehen, wonach wie eigentlich suchen und was diese scheinbar so erfüllende Erfahrung in Wirklichkeit ausmacht. Und in dem Augenblick werden wir die Erste Erkenntnis gewonnen haben."
(S. 15f.)


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