Mit der Absicht, gemeinsam mit ihm einen anderen Lösungsweg zu finden, begann ich das Gespräch mit Lutz und dieser kleine Dialog entstand:
"Was können wir tun, damit du freundlicher zu deinem Bruder bist? Was kann ich tun, wenn du ihn haust oder ihn schubst oder wenn du es tun willst?" - "Achtsam sein." - "Mhmm, und wer kann achtsam sein? Du oder ich?" - "Du." - "Ich kann achtsamer mit dir sein?" - "Ja, du kannst achtsamer sein." - "Und wenn du deinen Bruder hauen willst, wie hilft es dann, dass ich achtsamer bin?"
Diese Frage konnte Lutz mir nicht beantworten und ich denke, dass ist von einem fast vierjährigen Kind auch viel zu viel erwartet. Die Antwort hatte ich selbst zu finden.
Achtsamer sein.
Bedeutet das, eher einzugreifen? Den Jüngeren rechtzeitig vom Spielzeug des Älteren fern zu halten? Heißt das, bei jedem drohenden Konflikt umgehend da zu sein und mindestens zu beobachten, aufmerksam zu sein?Ich denke nicht, denn mal abgesehen davon, dass die beiden zu lernen haben, mit Konflikten umzugehen, ist so etwas im Alltag auch absolut unpraktikabel. Die Lösung kam mir ein paar Stunden später im Gespräch zwischen uns Erwachsene.
"Du kannst achtsamer sein", hatte Lutz gesagt - und das nicht auf eine bestimmte Situation bezogen. Trotz meines Bezugs zu einer direkten Konfliktsituation, hatte Lutz dies so nicht verbalisiert. Meine Lösung zu seinen Worten ist ebenso einfach wie herausfordernd: Ich kann generell achtsamer sein. Ich kann das Problem an seiner Wurzel angehen.
Mir ist doch längst bewusst, dass Lutz handgreiflich und laut wird, wenn er sich hilflos und ängstlich fühlt. Und im Grunde kenne ich auch die Bedürfnisse, die dahinter stecken, auch wenn sie je nach Situation ein wenig variieren mögen. Gewöhnlich sind es die Bedürfnisse nach Schutz, Geborgenheit, Gesellschaft, Aufmerksamkeit und Selbstständigkeit.
Wie oft, wenn Lutz laut und wild ist und ich meine Ruhe haben möchte, schicke ich ihn in ein anderes Zimmer, wo er für sich lärmen kann, so viel er will? Aber es geht im gar nicht darum, zu lärmen. Es geht ihn um Gesellschaft und Aufmerksamkeit. Und wenn es am Ende gar Tränen gibt, unter denen Lutz doch ins andere Zimmer geht, habe ich zwar mein Bedürfnis nach Ruhe gestillt, doch was tat ich ihm an? Schürte ich in ihm nicht eher die Angst des verlassen Werdens und des Verlustes? Spürt er diese Angst des Verlustes nicht ebenso, wenn es um sein Spielzeug geht? Und wenn ich nun daran denke, was ich von Gerald Hüther lernte, nämlich, dass diese Form der Angst im Hirn die gleichen Regionen aktiviert, die bei aktiviert werden, wenn man körperliche Gewalt erfährt, ist es dann nicht vollkommen logisch, dass Lutz aggressiv wird?
Wenn ich also möchte, dass Lutz freundlicher mit anderen Menschen und insbesondere mit seinem kleinen Bruder umgeht, dann habe ich daran zu schaffen, dass er diese Gefühle der Verlustangst und des Mangels erst gar nicht derart entwickelt. Es ist an mir, achtsamer zu sein, seine Bedürfnisse zu erkennen und sie zu befriedigen. Und das nicht erst, in der Konfliktsituation, sondern lange, lange vorher und immer wieder aufs Neue.
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